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(K)ein Märchen

Aktualisiert: 25. Dez. 2020

Es war einmal ein Mädchen, das fühlte viel.

Es lebte ein Leben, wie alle anderen auch. Es ging zur Schule, hatte eine Mutter, hatte einen Vater. Es hatte ein eigenes Zimmer voller Spielsachen. Und der Kühlschrank der Familie war niemals leer. Die Garage stand voll mit Schlitten, Fahrrädern und das Wohnmobil parkte vor der Haustür. Der Vater verdiente das Geld, die Mutter war zuhause. Da war alles, was sich das Mädchen nur wünschen konnte.

Da das Mädchen jedoch viel fühlte, fühlte es, etwas fehlt.

Sie wusste nicht, was es war, denn dieses etwas war nicht zu sehen.

Augenscheinlich war doch alles da. Und es brannte in ihr, denn sie fühlte, es war wichtig.

Doch was sie fühlte, fühlten all die anderen nicht. Niemand sprach darüber.

Es musste wohl falsch sein, was sie fühlte.

So beschloss sie zu glauben, was sie sich ersehnte, was sie fühlte, sei nicht wahr.

Und was ihr Herz ihr flüsterte, sagte und forderte, hörte sie nicht. Denn was sich gut für sie anfühlte, schien nicht gut für andere. Und sie beschloss zu vergessen.

So begann sie still zu sein. Alleine. Herz und Mund geschlossen - wie alle anderen.


"Herz du dienst mir nicht. Wenn ich auf dich höre, dann bin ich nicht richtig."


Das Mädchen wurde älter und älter und immer stiller und stiller.

Es wurde dünner und unscheinbarer, ja kaum mehr sichtbar. Es hatte aufgehört zu essen, aufgehört zu lachen. Es sah in den Spiegel und sah sich selbst nicht mehr.

Es hatte aufgehört zu hören, was ihr Herz ihr sagte.

Sie schaute, was die anderen zum Lachen brachte, hörte was die anderen sagten und nickte und lachte mit. Und sagte, was alle anderen sagten. Und fühlte nur, was alle anderen fühlten.

Eines Tages, sie hatte mittlerweile alles - ein eigenes Haus, Kinder mit eigenen Zimmern und vielen Spielsachen, einen vollen Kühlschrank und Schlitten und Fahrräder in der Scheune, der Wohnwagen parkte vorm Haus. Der Vater der Kinder verdiente das Geld, sie blieb zuhause -

da fühlte sie es auf einmal. Sie fühlte ihr Herz.


"Ich kann nicht mehr. Ich kann keinen einizigen Tag mehr so weitermachen."


Und sie weinte, sie weinte und weinte und weinte. Und weinte.


Ihr Herz aber lachte.

An diesem Tag entschied sich das Mädchen, ihr Leben zu leben.

Ihr Lachen zu lachen. Ihre Worte zu sagen. Ihre Gefühle zu fühlen.

Sie dankte und versprach, gut zu sich zu sein.

Und ihr Herz antwortete ihr mit einer Begegnung.

Sie traf ihn an einem Wintertag auf dem Markt. Und sie wusste, dass sie ihn liebte.

Sie sah ihn, fühlte ihr Herz schlagen und wusste, was ihr immer gefehlt hatte.

Mit jedem Tag, den sie fortan lebte, schenkte sie sich all die Liebe, all die Zuwendung, all die Hingabe und Achtsamkeit, all die Fürsorge und Zärtlichkeit, die sie sich ihr Leben lang gewünscht hatte. Die sie sich ersehnte, seit sie auf diese Erde gekommen war.

Und sie stellte ihr Herz an erste Stelle. Jeden Tag, jeden Moment, in jedem Augenblick.

Und sie liebte es zu fühlen. Sie fühlte und fühlte und fühlte. Sie liebte sich für das Fühlen ihrer Gefühle. Und fühlte noch mehr. Und noch tiefer. Und liebte sich noch mehr.

Fortan lebte sie glücklich. Nichts mehr von alldem, was sie besessen hatte, hatte sie noch.

Das Haus war verkauft, die Kinder teilten sich ein Zimmer, keine gefüllte Garage, keine gefüllte Scheune - doch sie brauchte nicht viel, denn das Herz war voll.

Voll bis obenhin und zum überlaufen gefüllt. Und es gab nichts, was ihr noch fehlte.

Die Menschen bemerkten ihr Glück und ihr Leuchten, hörten ihre Worte, sahen ihr Lachen und erinnerten sich. Sie fühlten auf einmal, dass ihnen etwas fehlte. Dass sie sich nach etwas sehnten. Und sie kamen von nah und fern zu ihr um zu lernen, wie sie fühlen konnten, was das Mädchen fühlte.

Denn sie hatte es gefunden. Gefunden, was sich alle Menschen ersehnten.

Und sie teilte, was sie liebte. Denn sie wusste, es war immer da. Wieviel sie davon auch schenkte, es wurde nur mehr und mehr. Ihre Liebe. Und sie liebte sich bis in alle Ewigkeit.

Und dies war kein Märchen.

Es war nur die Wahrheit.



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